Das Gute in deinem Kind sehen

Stell dir vor, du betrittst das Kinderzimmer und das erste, was du siehst, ist das Chaos. Spielzeug liegt überall herum, Kissen sind vom Sofa gerissen und im Flur stehen die Schuhe kreuz und quer. Vielleicht merkst du, wie sich deine Schultern anspannen und der Gedanke aufkommt: "Warum können die Kinder nicht einfach mal aufräumen?" Diese Momente kennen wir alle. Doch was wäre, wenn du deinen Blick neu ausrichten könntest? Was wäre, wenn du das Gute in dieser Situation sehen könntest?

Das Gute sehen bedeutet nicht, Probleme zu ignorieren oder alles "schön zu reden". Es bedeutet, die Perspektive zu wechseln und das zu erkennen, was im Alltag oft übersehen wird. Es bedeutet, nicht nur auf das Chaos zu schauen, sondern auch auf das, was dein Kind in diesem Moment gebraucht, gelernt oder ausprobiert hat. Vielleicht hat dein Kind gerade eine Burg gebaut, mutig neue Ideen umgesetzt oder einfach intensiv gespielt. Das Gute zu sehen, ändert die Art und Weise, wie du mit deinem Kind sprichst und wie du selbst durch den Tag gehst.

Wenn es dir schwerfällt, das Gute zu erkennen, liegt das nicht an dir. Unser Gehirn ist darauf programmiert, Gefahren zu erkennen und Probleme zu lösen. Früher hat uns das das Überleben gesichert. Heute sorgt es dafür, dass wir vor allem Fehler und Unordnung wahrnehmen. Du siehst sofort die ungespülte Tasse, den Wutanfall deines Kindes oder die vergessenen Hausaufgaben. Positive Verhaltensweisen oder Fortschritte gehen oft unter. Die gute Nachricht ist: Du kannst lernen, deinen Blick bewusst zu lenken.

Der erste Schritt dazu ist das Verstehen. Kinder handeln nicht, um dich zu ärgern. Sie handeln nach ihren Bedürfnissen. Wenn dein Kind wütend schreit, steckt dahinter oft Frustration, Überforderung oder der Wunsch nach Autonomie. Wenn es ständig "Nein" sagt, zeigt es dir, dass es gerade Unabhängigkeit übt. Es möchte ausprobieren, wie viel Einfluss es auf die Welt hat. Statt nur das Problem zu sehen, könntest du fragen: "Was steckt dahinter?" Vielleicht siehst du plötzlich nicht mehr nur das schreiende Kind, sondern das Kind, das nach einer Lösung sucht.

Ein weiterer Schritt ist das bewusste Sehen der Stärken deines Kindes. Es gibt keine Kinder, die "nur anstrengend" sind. Es gibt Kinder, die mutig, entschlossen, kreativ oder willensstark sind. Jedes Verhalten hat zwei Seiten. Was du als "stur" wahrnimmst, könnte in einem anderen Kontext als Entschlossenheit gelten. Was du als "zappelig" empfindest, könnte ein Ausdruck von Neugier und Entdeckerdrang sein. Indem du das Gute in diesen Eigenschaften erkennst, kannst du den Fokus verändern. Dein Kind merkt das. Es fühlt sich gesehen und bestätigt.

Vielleicht fragst du dich, ob es reicht, das nur zu denken. Tatsächlich macht es einen großen Unterschied, das Gute auch auszusprechen. Worte sind Märkte der Wahrnehmung. Wenn du deinem Kind sagst: "Ich habe gesehen, wie viel Geduld du heute hattest", dann verankerst du diese Sichtweise auch bei dir selbst. Du nimmst dir einen Moment, um das Positive zu bemerken, und dein Kind erfährt, dass du es wahrgenommen hast. Diese kleinen Momente summieren sich. Das Kind entwickelt ein Selbstbild, das nicht nur aus "Ich mache alles falsch" besteht, sondern aus "Ich habe Stärken".

Das Gute zu sehen ist auch ein Geschenk an dich selbst. Viele Eltern neigen dazu, sich auf die eigenen Fehler zu konzentrieren. Vielleicht denkst du am Ende des Tages darüber nach, was du hättest besser machen können. Du erinnerst dich an die Momente, in denen du die Geduld verloren hast, nicht aber an die Momente, in denen du mit deinem Kind gelacht hast. Doch wenn du den Blick änderst und auch bei dir selbst das Gute siehst, verändert das dein Wohlbefinden. Es ist nicht egoistisch, gut zu sich selbst zu sein. Es ist notwendig.

Das Gute zu sehen heißt nicht, die Augen vor der Realität zu verschließen. Es heißt, sich bewusst zu entscheiden, worauf du dich konzentrieren möchtest. Es heißt, die Geschichte, die du über dein Kind und dich selbst erzählst, neu zu schreiben. Du bist keine "gestresste Mutter" oder "unperfekte Mutter". Du bist eine Mutter, die jeden Tag das Beste gibt. Dein Kind ist kein "Trotzkopf" oder "Unruhestifter", sondern ein Kind, das mit aller Kraft die Welt entdeckt.

Der Alltag mit Kindern bleibt herausfordernd. Kinder schreien, streiten, verweigern und fordern. Aber sie lachen, lernen, trösten und lieben auch. Das eine existiert nicht ohne das andere. Wenn du das Gute sehen kannst, verändert sich der Umgang mit den schwierigen Momenten. Plötzlich spürst du Geduld, wo vorher Frust war. Du siehst dein Kind nicht als "Problem", sondern als Mensch, der dich gerade braucht. Das bedeutet nicht, alles hinzunehmen. Grenzen sind wichtig. Aber sie können mit Liebe und Respekt gesetzt werden.

Du kannst heute damit anfangen, das Gute zu sehen. Schau dein Kind an, wenn es spielt, lacht oder voller Konzentration ein Bild malt. Sieh dir an, wie es Probleme löst, wie es Frustrationen überwindet, wie es dich nach Trost fragt. Nimm dir Zeit, auch bei dir selbst das Gute zu sehen. Was hast du heute gut gemacht? Welche kleinen Siege kannst du feiern? Vielleicht war es der Moment, in dem du ruhig geblieben bist, als du eigentlich explodieren wolltest. Oder der Moment, in dem du zu deinem Kind "Ich sehe dich" gesagt hast.

Das Gute zu sehen ändert nicht die Welt, aber es ändert, wie du durch die Welt gehst. Du wirst sehen, dass dein Kind nicht perfekt sein muss, um liebenswert zu sein. Und du musst es auch nicht. Vielleicht findest du, wenn du genau hinschaust, eine kleine Hand, die deine festhält. Eine Stimme, die "Mama, schau mal!" ruft. Das Gute ist da. Jeden Tag.

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